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Alkoholsüchtig im Studium: „Angefangen hat das wohl in meiner Jugend“

Als Tom mit 24 Jahren bemerkt, dass etwas nicht stimmt, ist es schon zu spät. Seine Hände zittern, er muss sich von seinem inneren Kampf übergeben.

Als ich um die Ecke des Hauses biege, sitzt Tom schon im Garten seines Wohnhauses an einem Tisch. Kuchen vom Bäcker liegt auf einem Papptablett vor ihm. Er hat gewartet – das Gespräch ist ihm wichtig. An diesem Sommertag will er mir seine Geschichte erzählen. Tom ist mittlerweile 27 Jahre alt und war bereits viele Jahre alkohol- und drogenabhängig. Ansehen tut man es ihm nicht. Er sieht gut aus, ist sportlich, kann sich reflektiert ausdrücken und studiert. „Angefangen haben muss das alles irgendwann in meiner Jugend“, sagt er und zündet sich seine erste Zigarette an. Er meint seine Depression. Fachärzte diagnostizierten sie erst vor drei Jahren und sagen, dass sie der Auslöser für seine Alkohol- und Drogensucht war, die etwa zehn Jahre lang unbemerkt blieb.

„Erst später habe ich herausgefunden, dass das nicht normal ist. Ich dachte, alle trinken so viel.“

Tom trank schon früh. Eine Flasche Schnaps pro Feier war mit 16 oder 17 Jahren in dem kleinen Ort, aus dem er kommt, völlig normal. „Eine andere Stimulanz als die aus der Flasche gab es da auch nicht“, sagt er und lacht trocken. Doch lustig ist das eigentlich nicht: „Ich habe immer getrunken, bis die Lichter ausgingen“, erzählt er. Dazwischen gab’s nichts.

Mutter stirbt, als er 17 Jahre alt ist

Leicht hat er es nicht in seiner Kindheit und Jugend. Als er 17 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter nach langjährigem Krebsleiden in den Sommerferien seines Fachabiturs. Bis dahin wird sie Zuhause gepflegt. „Da gab es dann viele Sachen, die bei mir auf der Strecke geblieben sind“, erinnert sich Tom. Bewusst ist ihm das damals aber nicht. Und auch sein Vater hat eine klare Einstellung zum Leben: „Es hieß machen. Und wenn du schwach bist, musst du eben härter machen“, sagt Tom. In der Schule soll er aufpassen, so etwas wie Stress existiert nicht: „Ansonsten trank man eben drei Bier abends vorm Fernseher, das war dann eben die Stressbewältigung.“ Nach dem Tod seiner Mutter trinkt auch er viel. Und ist in der folgenden Zeit öfter betrunken als nüchtern.

Auch Lehrer bemerken nichts. „Für die waren wir alle Assis“, sagt er. „Es war ja Abi auf dem zweiten Bildungsweg und manche haben da ihre Zeit abgesessen. Entsprechend wurden wir auch behandelt.“ Die Lehrer kommen vor allem aus der freien Wirtschaft und sind Quereinsteiger. Doch trotz allem funktioniert eine Sache richtig gut: Im Englischunterricht hat Tom immer gute Noten, ohne etwas dafür zu tun, im Abitur später sogar ein „sehr gut“. Davor wird er manchmal wegen seiner Alkoholfahne aus dem Klassenraum geschmissen. Mit ihm darüber gesprochen hat niemand.

Hätte ihn damals aber jemand darauf angesprochen, hätte er selbst nicht gewusst, dass etwas nicht normal an seinem Konsumverhalten ist, sagt Tom heute. Seine Freunde waren überfordert, Hilfsangebote gab es vielleicht in der ganzen Zeit zwei Mal. Aber er will nicht zu sehr daran zurückdenken:

Sonst verfängt man sich so schnell in dem Gedanken, was hätte sein können und hadert mit seinem Schicksal.“

Umfeld distanziert sich

Irgendwann fällt ihm auf, dass er auf einer Feier mal nicht eingeladen wird, von anderen wird er mal nicht gegrüßt. „Ja, die haben sich natürlich von mir distanziert“, für Tom ist das heute glasklar. Er versteht die anderen im Nachhinein: „Manchmal habe ich mich ja auch im Vollsuff geprügelt oder wurde ausfallend, das mag natürlich niemand gerne.“

Studium im Norden

Fürs Studium landet er im Norden, irgendwas muss er nach dem Abitur machen, sein Vater macht Druck. In der neuen Heimat eckt er manchmal an: „Ich bin halt ein Arbeiterkind, dadurch sprach ich auch eine andere Sprache und bin dazu auch noch ziemlich direkt.“ Doch er findet auch gute Freunde, die ihn bis heute begleiten. Viel bemerken sollen sie allerdings nicht: „Weil die Meisten mit den Themen schnell überfordert sind. Das macht viele Situationen dann unangenehm.“ Den Großteil muss Tom deshalb mit sich selbst ausmachen.

Sein Studium ist strikt aufgebaut. „Alles war an Konditionen gebunden, man musste von Anfang an die nötigen Leistungen erbringen, um das nächste Seminar belegen zu dürfen.“ Dadurch hat Tom Probleme, mit seiner bisherigen Arbeitseinstellung kommt er nicht weiter. „Ich habe jahrelang so vor mich hingetüddelt und habe dann gemerkt, dass das alles keine Perspektive hat und dachte mir: Das kriege ich auf die Weise niemals fertig.“ Die Uni deprimiert ihn, Ablenkung verschaffen ihm seine Freunde und regelmäßige WG-Feiereien.

Irgendwann fiel mir auf, dass es leichter ist, aufzustehen, wenn man richtig einen im Tee hat.“

Zusätzlich zum Trinken kifft er auch. Was folgt, ist ein Abwärtsstrudel. Manchmal geht er so betrunken ins Bett, dass er am nächsten Morgen den Wecker überhört und bis 13 Uhr schläft. Und die Vorlesung verpasst, die er sich so fest vorgenommen hatte. „Erst dann wurde mir klar, dass da gerade etwas entgleitet“, sagt Tom. Doch der Alkohol hat ihn fest im Griff und lässt ihn nicht so schnell wieder los.

Ein innerer Kampf

Eines Abends ist er mit einer guten Freundin verabredet, um in eine Kneipe zu gehen. Spontan entscheidet er: „Weißt du was, ich komme zwar mit, aber ich möchte heute mal nichts trinken.“ Als ein Bier dann in seiner Nähe steht, spürt er das unbändige Verlangen, dieses auch zu trinken. Von dem inneren Kampf dagegen muss er sich schließlich übergeben, seine Hände zittern.

„Ich bin völlig abgedreht, ich konnte plötzlich nichts mehr mit den Leuten um mich herum anfangen. Mit meinen Freunden! Ich wusste absolut nicht mehr, wohin mit mir.“

Er weist sich selbst ein

Dann geht alles ganz schnell, Tom packt spontan eine Tasche zusammen und weist sich noch am selben Abend selbst in die Entgiftungsklinik ein. Seine Freunde begleiten ihn im Taxi. Beim Alkoholtest hat er dann allerdings null Promille. Nicht genug, um in die Akutaufnahme der Klinik aufgenommen zu werden. „Mein Glück war dann, dass ich vorher gekifft hatte, das konnte nachgewiesen werden und reichte aus, dass ich erstmal da bleiben durfte“, wieder lacht Tom sein trockenes Lachen und zieht an seiner Zigarette. Es folgt eine Therapie mit Entgiftung in einer geschlossenen Einrichtung. Dort lernt Tom alltägliche Dinge, wie um Hilfe zu bitten. „Das fängt schon dabei an, dass man dort sogar fragen muss, ob man auf Toilette gehen kann oder eine Flasche Wasser bekommt“, sagt er.

Lernen, mit der Sucht umzugehen

Noch immer geht er regelmäßig zu Gesprächskreisen, der Austausch mit Gleichgesinnten tut gut. Wie lange noch, weiß er nicht. Das Thema soll nicht zu viel Platz in seinem Alltag einnehmen. Tom hat eine klare Haltung zu seiner Vergangenheit, er hat mittlerweile gelernt, damit umzugehen.

Dennoch gibt es auch im Alltag immer wieder Situationen, die schwierig sind. Alkohol ist omnipräsent: Direkt nach erfolgreichem Abschluss seiner Therapie vor ein paar Jahren ging er ins Kino, um etwas ohne Alkohol zu unternehmen. Über die Leinwand flimmerte dann ein Bier in Übergröße, Tom spürte sofort wieder den Druck. Auch alkoholfreies Bier trinkt er nicht mehr: „Das ist scheiße, es schmeckt so ähnlich wie Bier, damit kommt man niemals wirklich weg davon.“ Eine Herausforderung sei auch schon der alltägliche Einkauf – die Alkoholabteilung vermeidet er strikt. „Verboten gehören aber auch die Kurzen direkt vorne an der Kasse“, sagt er. „Damit ist eine gewisse Zielgruppe stark verleitet, sich etwas mitzunehmen“. Am Anfang brauchte Tom nach einem Einkauf noch einen Tag lang Pause – zu viele Stresssituationen. Mittlerweile geht es leichter.

Mehr Sensibilität für das Thema wichtig

Alkohol sollte nicht verharmlost werden, findet er. Wenn jemand nein sagt, heißt das nein. Was dahintersteckt, weiß man nie. Sogar bei privaten Feiern ist von seiner Tagesform abhängig, ob er genügend Widerstand mitbringt, den Geruch und den Anblick von Alkohol zu ertragen. „Es ist immer die Gefahr da, dass man rückfällig wird“, sagt er. Man wisse nie, wie es endet: Ob es nur ein Ausrutscher bleibt, ob man dann wieder an der Flasche hängt oder vielleicht an den Folgen stirbt. Tom:

„Die Angst, wieder voll drinzuhängen, ist immer da.“

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Von Jule-Marie Schoppmeier

Jule-Marie spielte schon früher in einem Zeltlager die „Göttin of Confusion“. Verwirrt ist sie zwar nicht, aber sie hinterfragt Dinge und regt zum Nachdenken an. So lange, bis sie manchmal selbst davon Kopfschmerzen bekommt. Heute fädelt sie ihre Gedanken deshalb regelmäßig auf Spulen und webt daraus bunte Texte. Kontrolliertes Chaos ist für sie eine Lebenseinstellung. Um das in Schach zu halten, nutzt sie für ihr Privatleben am liebsten Notizbücher oder digitale Projektmanagement-Tools.

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